Tradition und Moderne

Seit Kurzem habe ich wieder die Möglichkeit zu unterrichten, und freue mich sehr, die Räume mit gleich drei Kung Fu Lehrenden zu teilen. Einige unterrichten ganz traditionelles Kung Fu in der Linie großer Meister. Mein eigener Stil hingegen, Wu Li Quanfa, ist ein modernes Kung Fu, zusammengestellt aus dem Besten, was ich in über 30 Jahren von verschiedenen Lehrenden gelernt habe.

Andererseits habe ich mich immer als einen Übenden traditioneller Kampfkunst verstanden. Der sportliche Wettkampf interessiert mich wenig, und die bloße Verengung auf "Effektivität" in modernen Kampfsportarten wie dem Krav Maga stößt mich ab. Ebenso wichtig wie effektive Selbstverteidigung ist mir die Entwicklung der Persönlichkeit im Sinne eines Budo. Erst deswegen konnte Kung Fu zu meinem Lebensweg werden. Nun ist allerdings "Budo" ein japanisches Konzept, und die Entwicklung der Persönlichkeit ist keineswegs ein zwingendes Thema für traditionelle chinesische Schulen.

Es ist also kompliziert, das Verhältnis von Tradition und Moderne. Wenn heute moderne Martial Arts gegen traditionelle positioniert werden, so geschieht dies in der Regel mit Blick auf die traditionellen japanischen Kampfkünste Judo, Karate und insbesondere Aikido. Interessanterweise sind alle drei als kodifizierte Schulen nicht älter als 150 Jahre und entstanden damals als Modernisierungen traditioneller Schulen.

Betrachten wir wiederum die Vielzahl der chinesischen Kampfkünste, so fällt auf, dass viele Stile und Schulen selbst in unterschiedliche Varianten zerfallen. Sofern wir etwa davon ausgehen, dass alles Taijiquan auf den Chen Stil zurückgeht, so hat allein dieser Stil mindestens ein halbes Dutzend Derivate gebildet, die wir auch als Modernisierungsschübe begreifen können. Wenn heute von Tai Chi gesprochen wird, ist in der Regel der Yang Stil gemeint, der seinerseits erst vor gut 150 Jahren aus dem Chen abgezweigt wurde und mittlerweile, trotz großer Anstrengungen der Linienhalter, in unterschiedliche Varianten zerfällt. Mit anderen Worten: Modernisierung gehörte schon immer zur Tradition in der Kampfkunst.

Das ist auch gar nicht weiter schlimm und nicht einmal verwunderlich. Aber nicht nur im Westen gibt es die Vorstellung einer engen Verbindung von Tradition und Wahrheit. Danach verbürgt allein die Überlieferung die Geheimnisse und die Effektivität eines Stils.

Tatsächlich kann unsere Kunst, Martial Arts, ohne die direkte, persönliche Unterweisung, ohne Überlieferung und Approbation gar nicht bestehen. Kampfkunst lässt sich nur in der Praxis lernen. Bücher und Videos helfen nur dem, der bereits ein gewisses Maß an Erfahrung besitzt, und das Korrektiv des Lehrers, d.h. die Approbation, ist oft unerlässlich.

Andererseits aber misst sich Kampfkunst letzten Endes im Einsatz, sei dies nun ein Boxring, ein Schlachtfeld oder eine dunkle Straßenecke (alle drei sehr verschieden voneinander!). Eine Kampfkunstschule ist keine Trachtengruppe, und obwohl die Überlieferung voller Hinweise und wertvoller Schlüssel ist, muss jeder und jede Einzelne die Techniken für sich entdecken und realisieren. Der bloße Nachvollzug kodifizierter Bewegungen genügt nicht einmal im meditativen Tai Chi. Und der Kern des Vorwurfs der Modernisten in Richtung des Aikido (und traditioneller Schulen allgemein) lautet eben, diese Rückbindung an die Anwendung verloren zu haben. Dies ist aber ein Vorwurf an die didaktische Methodik und berührt den technischen Kanon nur in zweiter Linie.

Die Differenz zwischen Tradition und Moderne hat also mehrere Facetten:

Das Alter. Die Geschichte der Kampfkünste ist voller Wandlungen. Jeder und jede, die Kampfkunst über Jahrzehnte betreibt, stellt an sich selbst fest, wie sich Verständnis und Praxis über die Jahre wandeln. Und so wandelt sich, in Details, auch Lehre und Überlieferung. Neue Stile entstehen, alte Stile geraten in Vergessenheit, wobei neue Stile immer durch Rekombination des alten entstehen, denn niemand schöpft aus der leeren Luft, am wenigsten die Besten.

Die Line. Ob in den alten Familienstrukturen oder den Verbänden der Neuzeit steht die Linie und ihr jeweiliges Oberhaupt für Kontinuität und Bewahrung der Tradition, d.h. Qualitätssicherung. Am Aikido lässt sich ablesen, das dieser Anspruch nicht zwangsläufig eingelöst wird. Demgegenüber stehen freie Lehrer und Innovatoren aller Art. Die meisten von ihnen geraten wieder in Vergessenheit, sofern sie nicht unsterblichen Ruhm erringen oder es ihnen gelingt, eine neue Linie zu begründen.

Die Lehre. Meine eigene Vorstellung, dass Kampfkunst jenseits des bloßen Kampfsports zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen soll, ist als Unterscheidungskriterium zwischen Tradition und Moderne eine sehr westliche Vorstellung, die einem romantisierenden Asienbild entspringt. Moralische und spirituelle Gebote spielen zwar in einzelnen Stilen und für verschiedene Persönlichkeiten der asiatischen Kampfkünste eine wichtige Rolle, aber andere traditionelle Stile sind einfach nur sehr alte Kampfsportvereine.

Dennoch stelle ich mich selbst lieber frei in die Tradition inspirierter Meister, deren Blick weit über die Anwendung des Faustschlags hinausging, auch wenn es sich dabei um eine genuin moderne Haltung handelt. Auch das hat ja in gewissem Sinne Tradition.

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